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Es mag für manche nicht besonders zeitgemäß klingen, aber es ist nun an der Zeit, an die gewaltige Kraft des Rock‘n‘Roll zu erinnern. An die Schönheit und den Zauber, die in dem romantischen Konzept von einer Gruppe aus Freundinnen und Freunden liegen, die zusammen die Welt aus den Angeln heben. Die eine Gang sind. Für die es nichts wichtigeres gibt, als genau hier und jetzt und mit diesen Leuten genau diese Art von Musik zu machen.
Leftovers aus Wien sind so eine Band. Ihr erstes, am 28.10.22 erscheinendes Album, „Krach“, ist das beste Argument für krachige Indie-Rockmusik seit ziemlich langer Zeit.
Leonid, Leon, Anna, Alex: Vier Freund:innen Anfang 20, die bereits optisch ihre Idols gleichzeitig killen und referenzieren, indem sie eine ikonoklastische Glam-Metal-Punk- Ästhetik voller Zitate ins Hier und Jetzt transponieren. Leftovers spielen dazu einen mitreißenden Überwältigungs-Angry-Cybergrunge mit Digital-Hardcore-, Industrial-, Punk-, und Hamburger-Schule-Elementen – gleichzeitig aber auch nichts von alldem. Weil Leftovers jenseits jeder Referenzhölle bereits mit dem ersten Album zu einem bestechend individuellen Stil gefunden haben, zu dem Leonid mit lässiger Nonchalance und überschnappender Hyperventilation von Alienation, Isolation und Liebeskummer singt.
Musik war für alle Mitglieder dieser Band von frühster Jugend an auf verschiedene Weise omnipräsent. Leon (Schlagzeug) und Leonid (Gesang) waren schon im Gymnasium beste Freunde, Leons Vater ist ein bekannter österreichischer Musikmanager, 1/4
Leonids Vater wiederum Sänger und die Mutter ist Pianistin und Dirigentin. „Ich war für die Musik bestimmt, dieser Weg war vorgezeichnet“, sagt er. „Irgendwann hat mein Gitarrenlehrer gefragt: ‚Warum machst du eigentlich keine Band?‘ Dadurch hat sich das in meinem Kopf gesetzt, ich hatte Blut geleckt – und dass Leon dabei ist, war natürlich klar.“
Anna (Bass) ist ebenfalls sehr musikalisch aufgewachsen, spielte von Kindheit an Klavier, Gitarre, Flöte, wollte eigentlich an die Oper und sang im Chor. Dort lernte sie Leonid kennen, der sie irgendwann fragte, ob sie nicht eine Band gründen sollten. „Bass hatte ich zuvor noch nie gespielt“ sagt sie, „aber als ich gehört habe, wie fucking gut Leonid Gitarre spielt, wollte ich das auch lernen.“
Die Besetzung komplettiert Alex (Gitarre), der aus einer Handwerkerfamilie stammt, mit Santana und Classic-Rock aufgewachsen ist, später auf der Musikschule Jazz-Gitarre lernte und in einem Ensemble spielte. Alle vier kommen gebürtig aus Wien, alle vier entwickelten ab einem gewissen Punkt eine derart heftige Schockverliebtheit in Grunge und die alternative Rockmusik der Neunzigerjahre, dass sie für den klassischen Betrieb verloren waren.
Freundschaft war bei Leftovers von Anfang an wichtiger als technisches Können. „Es klingt immer besser, wenn man befreundet ist“, sagt Leonid. „Du kannst die technisch besten Musiker auf eine Bühne stellen, wenn die sich ansonsten nichts zu sagen haben, wird man das auch hören.“ Die Anfänge der Band vor drei, vier Jahren sind noch spielerischer Natur: Sie benennen sich nach zwei Ladengeschäften gegenüber ihres Proberaums und heißen erst Galerie 54, dann Damenfriseursalon, dann Alternative Phonies, schließlich Leftovers. Die Texte sind damals noch auf Englisch, so auch auf der deutlich Nirvana-inspirierten ersten EP, „If I Had A Mood Ring It Would Be Black Fuck You Mum It‘s Not A Phase“.
Während der Coronapandemie wäre es dann beinahe auch schon wieder vorbei gewesen mit Leftovers. „Ich hab damals schon zu Freunden gesagt, die Band existiere nicht mehr“, sagt Anna. „Wir hatten uns monatelang nicht gesehen, alle waren irgendwie für sich in ihrer Quarantäne.“ Plötzlich ging dann alles wie von selbst: Alex trommelte die Band wieder zusammen, sie spielten ein einziges Konzert und entfachen damit einen wahren Wiener Szene-Hype.
2/4
Das gesamte Jahr 2021 über schrieben Leftovers daraufhin Songs und erstmals auch deutsche Texte. Sie hatten gemerkt: Wer etwas zu sagen hat, tut das am besten in der Sprache, in der er fühlt, träumt, denkt und überwiegend spricht.
Leftovers haben eine Menge zu sagen. Ihr mit dem Produzenten Alexander Gschwendtner bei Enzo Gaier in Wien aufgenommenes Debüt „Krach“ zerfetzt einem gleich mit dem Opener „Wiener Schule“ die Ohren, springt einen konfrontativ an. Es wird klar: dieser Musik kann man sich nicht entziehen, weil man sie niemals einfach so nebenbei hören könnte. „Krach“ erfordert Auseinandersetzung. „Es brennt der Karlsplatz, es brennt Paris, es brennt ganz Wien, für Kokain“, singt Leonid.
Das folgende „Tokyo“ bezieht seine Energie aus den vertrackten Gitarren und dieser vor Hysterie und Emphase beinahe überkippenden Stimme, „Blumen“ erinnert mit schrill sägenden Gitarren an die Pixies, während dem Gesang etwas auf verzweifelte Weise Bedrohliches innewohnt: „Ich kauf dir Blumen, für deinen Scheiß Balkon“, heißt es im Text.
Nicht nur hier sagen Leftovers mit wenigen Worten, was gesagt werden muss. Meist reichen dieser Band kurze Skizzen, um Gefühle, Geschichten, definitive Statements auf den Punkt zu bringen. „Hiroshima“ taugt im gleichnamigen Song auch 2022 noch als Codewort für Kriegsangst und atomarem Overkill. „Wenn schon sterben, dann mit Musik“, singt Leonid – gerne mit dieser hier!
Musikalisch beherrscht die Band meisterhaft intuitiv jene für diese Musik so typische Laut- leise-Dynamik. Anklänge an The Cure, Deftones, Sonic Youth, Nirvana und andere könnte man aufzählen, man kann es aber auch lassen. Das Beeindruckende an „Krach“ ist vor allem, wie Leftovers mit dem Wissen um die Altvorderen Musik und Geschichten für ihre Generation erzählen und der oftmals verschmähten Rockmusik so ein bestechendes Update bescheren.
Es passiert wahnsinnig viel auf diesem Album, das bei allen Querverweisen und aller stilistischen Vielfalt dennoch wunderbar homogen bleibt. Songs wie die fünfte Single „Angst“ erinnern an die Neue Deutsche Welle, aber dann knallt bei „Schizo“ plötzlich dieses irrsinnige Saxofon in den Song und macht nochmal eine komplett andere musikalische
Ebene auf, während „Es hört nicht auf“ beinahe Industrial ist, „Kinderzimmer“ Cyberpunk und „Plastic Liebe“ an die großartigen Wipers erinnert.
3/4
In dem unwiderstehlichen Hit „Keine Zeit“ lassen Leftovers die Dinge gerade ausreichend im Ungefähren, dass man nicht weiß, ob es hier um Sucht-Metaphern geht oder um Liebeskummer, bekanntlich eine der besten Pop-Strategien überhaupt. „Käfer“ schließlich ist zu gleichen Teilen ein theatralisches Großwerk wie eine Referenz an Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“. Nicht nur hier erinnern der Umgang mit Sprache, das Einstreuen englischer Passagen, die Literatur- und sonstigen Zitate bisweilen an die Dialektik des jungen Jochen Distelmeyer und seiner Band Blumfeld. Aber für die Hamburger Schule sind Leftovers zu jung, zu hedonistisch - und zu fatalistisch.
Im Gegensatz zu Bands wie Bilderbuch oder Wanda zehren Leftovers auch nicht sonderlich vom Wiener Lokalkolorit. Abgesehen von wenigen Ausnahmen könnte diese Musik beinahe überall herkommen. Wichtig ist vor allem, dass sie von diesen vier Leuten stammt. Dass es sie überhaupt gibt. Genau hier und genau jetzt, dieser Moment ist alles, was zählt. „Krach“: die wahrhaftigste Überwältigungsrockmusik der Stunde.
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